Rechercheausstellung DIE SCHWEIZ IST KEINE INSEL #1 - In lästiger Gesellschaft

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"Miss Roma", video still, Tamara Moyzes

"Miss Roma", video still, Tamara Moyzes

Das aktuelle Ausstellungs-, Film- und Veranstaltungsprogramm „DIE SCHWEIZ IST KEINE INSEL“ macht einerseits die gesellschaftliche Ausgrenzung und Verfolgung, aber auch die politische und kulturelle Selbstorganisation von Roma, Sinti und Jenischen in der Schweiz und in Europa zum Thema. Die Regulierung des öffentlichen Raums durch Bettelverbote oder Platzverweise, der Zusammenhang dieser Politiken mit der Verteilung des Reichtums und die Unsichtbarmachung von Armut werden aufgezeigt sowie Gegenstrategien formuliert. Weiters geht es um Fragen nach politischem Exil, Grenz- und Migrationspolitiken.

Das Thema des politischen Exils wird auch im zweiten Schwerpunkt aufgegriffen: in Bezug auf das Richard-Wagner-Jahr 2013 wird der Inszenierung des künstlerischen Genies als Strategie der Verwertung und Standortpolitik nachgegangen. Verschiedene Projekte stellen die Frage, wie aus einem antisemitischen politischen Aktivisten und (kultur-)politischem Stichwortgeber der Nazis eine schillernde Identifikationsfigur für das Exilland Schweiz wird, während gleichzeitig andere, die in der Schweiz Schutz, ein besseres Leben oder schlicht ihr wirtschaftliches Auskommen suchen, marginalisiert, kriminalisiert, aus dem öffentlichen Leben und Raum verdrängt werden.

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In von Rassismus geprägten Gesellschaften herrscht ein permanenter Konflikt zwischen jenen, die „dazu gehören“ und jenen, die nicht „dazu gehören“ – also einbezogen, kontrolliert oder „integriert“ werden müssen. Es handelt sich um einen Konflikt um die Definition der gesellschaftlichen Normalität: Wer kann oder darf auf welche Weise, mit welchen Möglichkeiten (mit-)bestimmen? Wie hat sich der/die Einzelne zu verhalten, zu sprechen und auszusehen? Wie und von wem wird diese Normalität gestaltet und wie und von wem sie überprüft, kontrolliert und „exekutiert“?

Diese herrschende Normalität betrifft einerseits den Zugang zu Ressourcen, die von Allen, auch von den Marginalisierten, geschaffen werden und auf die Alle mit gleichen Rechten Anspruch haben sollten. Gleichzeitig geht es aber auch um das Recht selbstbestimmt zu sprechen, sichtbar zu sein und an der Gestaltung des gemeinsamen Lebens gleichberechtigt teilhaben zu können. Es ist ein Konflikt um gleiche politische, soziale, ökonomische und kulturelle Rechte und um die Bedingungen des Sprechens, Handelns und überhaupt des Seins.

Für Marginalisierte, sei es für Minderheiten, für Migrant_innen, für sexuell jenseits der Norm orientierte, für sozial Schwache, Arme oder Arbeitslose bedeutet der Wunsch nach Teilhabe an der gesellschaftlichen Normalität einen Spießrutenlauf zwischen den eigenen Bemühungen nach einem selbstbestimmten und „guten“ Leben, der andauernden Hinterfragung und Beschränkung dieses Lebens sowie Diskriminierung und Ausschluss durch rassistische und antisemitische, sexistische oder klassistische Strukturen und alltägliche Anfeindungen. 

Für Jenische, Roma oder Sinti war und ist diese Situation seit Jahrhunderten Teil ihrer Lebensrealität. Sie machte die Arbeit an der Aufhebung sozialer Ungleichheit und Diskriminierung mit verschiedenen, gleichzeitigen Strategien notwendig: sei es die Entdeckung, Erschaffung und Besetzung unterschiedlicher Nischen, die das wirtschaftliche Auskommen sichern, die Weitergabe von Wissen abseits von staatlich und mehrheitsgesellschaftlich kontrollierbaren Ordnungssystemen gegen Assimilations- und Integrationspolitiken, die Sprache, Lebensweise oder soziale Strukturen angreifen, oder den Umgang mit gesellschaftlich zugeschriebenen Identitäten und der damit verbundenen Stigmatisierung. 

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Die gezeigten künstlerischen Arbeiten, Publikationen und Recherchematerialien beschäftigen sich vor allem mit der Frage danach, welche Strategien Jenische, Roma oder Sinti entwickeln, mit Fremdzuschreibungen und Erfahrungen mit Rassismus umzugehen, wie sie sich selbst definieren, in der Gesellschaft verorten und mit welchen Mitteln sie sich dem „rassistischen Wissen“ der Mehrheitsgesellschaft und der Marginalisierung widersetzen.

Mo Diener recherchiert in ihrer künstlerischen Arbeit zu verschiedenen Aspekten des Lebens von Jenischen in der Schweiz und zeigt in der Ausstellung Gespräche mit Schweizer Jenischen, die u.a. von ihren Lebensentwürfen, ihren Berufen, Selbstdefinitionen und –organisierungen erzählen. Eva Merckling-Mihok nimmt in „Die Beichte“ ihre eigene Autobiografie zum Anlass, um Erfahrungen mit familiären und gesellschaftlichen Ausgrenzungen als Tochter eines tschechischen Roms und einer Schweizerin zu beschreiben und einen selbstbestimmten Ausbruch aus dieser Situation zu formulieren. Tamara Moyzes ironisiert in „Miss Roma“ den Zwang der Anpassung an als legitim geltendes Aussehen anhand der Verwandlung einer Romni in eine blonde „Schönheit“. Marika Schmiedt zeigt in mehreren Filmen – „Eine lästige Gesellschaft“, „Roma Memento. Zukunft ungewiss?“, „VERMÄCHTNIS. LEGACY“ und „Gedenken“  – Kontinuitäten der Ausgrenzung, Verfolgung und des Verschweigens. Romnija verschiedener Generationen zeichnen darin ihre Lebensgeschichten, besprechen Strategien des „Überlebens“, schreiben sich in die Geschichte ein und konfrontieren die Mehrheitsgesellschaft.

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Die Rechercheausstellung DIE SCHWEIZ IST KEINE INSEL versammelt künstlerische Arbeiten zu Schwerpunktthemen sowie Publikationen und Recherchematerialien in Form eines Handapparats. Die Ausstellung wird im Laufe des Jahres 2013 mit zusätzlichen thematischen Schwerpunkten erweitert. Der  Handapparat wird laufend ergänzt, ist Grundlage weiterer Programmpunkte wie Workshops, Diskussionsveranstaltungen, Plakatkampagnen oder Aktionen/Interventionen und steht Besucher_innen zur Lektüre und als Recherchematerial zur Verfügung.