Nevin Aladağ

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Nevin Aladag: Significant Other (Videostill, 2011)
Nevin Aladağ: Significant Other, 2011, Foto:Tobi Albertshof

 

 

Nevin Aladağ (*1972, lebt in Berlin) ist bildende Künstlerin mit einem Hintergrund in Bildhauerei. Als solche arbeitet sie in konzeptuellen und mehrdeutigen Installationen aus skulpturalen Objekten, deren ursprünglichen Gebrauchswert die Künstlerin pointiert und in oft minimal-ästhetischer Zurückhaltung aus dem alltäglichen Bedeutungszusammenhang herausnimmt und neu akzentuiert. Eine ähnliche Komposition und Verschiebung von realer und übertragener Bedeutung liegt sowohl ihren urbanen Interventionen und Arrangements, als auch den seit einigen Jahren entwickelten performativen Choreographien zugrunde, die Aladağ von Schauspieler_innen und Tänzer_innen aufführen lässt. In ihren medial vielfältigen Arbeiten wird untersucht, welches die Trieb- und Ziehkräfte sozialer Gemeinschaften sind und wie sich individuelle Interessen und Gegen-Repräsentationen innerhalb von normativen Sozialgefügen artikulieren.

Significant Other
HD-Video, 2011

Die Videoinstallation Significant Other ist die Umsetzung einer ursprünglichen Live-Performance. Zwei Schauspieler_innen, eine Frau und ein Mann, stehen auf je einem Podest, deren Form an eine Hochzeitstorte erinnert. Zu hören sind Stimmen von Personen, mit denen Aladağ Interviews zu ihren privaten sozialen Beziehungen führte und die sich nach Alter, Geschlecht, Herkunft und Familienstand unterscheiden. Beide Schauspieler_innen ‚sprechen‘ nun diese Monologe und Dialoge nach, indem sie lediglich ihre Lippen synchron bewegen und als Interpret_innen mimisch und körperlich agieren. Als Refrain, wie bei einem Song, ertönt der Milli Vanilli-Hit und Playback-Skandal „Girl, you know it's true“, neu eingesungen und interpretiert durch das MusikerInnen-Paar Joy Denalane und Max Herre.
Beide Performer_innen sind mit denselben weissen, locker sitzenden ledernen Anzügen bekleidet, die an mehreren Stellen Öffnungen oder Eingriffe tragen. Die Schauspieler_innen greifen, je nach dem, welche Person gerade spricht, auf ganz unterschiedliche Art in die Öffnungen und tarieren so die verschiedenen Varianten von codierter Körpersprache aus. Dabei wechseln die geschlechtszuweisenden Gesten und Posen zwischen beiden Interpret_innen hin und her, wie auch die Zuweisungen von männlichen und weiblichen, jungen und alten, deutschen und nicht-deutschen O-Tönen vermischt werden. In diesen Rollenspielen zwischen fiktivem Paar, Freund_innen, Wohngemeinschaft oder Eheleuten wird Identität als Verhandlungsgegenstand und Performance gedeutet. So steht auch der Titel Significant Other für den genderneutralen englischen Begriff des oder der Lebenspartner_in. Im Spiel mit Soundcollage, Körperinszenierung und Genderindifferenz spiegelt Nevin Aladağ auf unterhaltsame Weise die Entwicklung von pluralisierten Beziehungsmustern wider und lässt den Wunsch nach subjektiven Identitäten, die Differenz als konstitutives Merkmal begreifen, anklingen.
 

Nevin Aladag: Leaning Wall, 2012 (Installationsansicht), Foto: Susi Bodmer
Nevin Aladağ: Leaning Wall, 2012 (Installationsansicht) Foto: Susi Bodmer 

 

Leaning Wall
Installation, gebrannte Keramikobjekte, 2012

Etwa 50 Negativabdrücke von weiblichen und männlichen Körpern sind in Keramik gebrannt und verschiedenfarbig glasiert. Die originalgrossen Abdrücke sind als Haltegriffe oder Boulder an einer Wand installiert, einer Kletterwand nachempfunden. Leaning Wall heisst die Arbeit der Künstlerin Nevin Aladağ, die als grosszügige, Raum aneignende Geste Halt verspricht, wo kein Halt ist. Passformen gleich wirken die Körperabdrücke, die überindividuell und individuell zugleich sind. Dabei sind weibliches und männliches Knie, Kinn, Ellbogen oder Hand kaum bis überhaupt nicht zu unterscheiden. Die Körperabdrücke werden zu einem Puzzle von geschlechtsunspezifischen Spuren und weisen darauf hin, dass wir alle Individuen mit ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Anteilen und Attributen sind. Die bildhauerische Komposition aus realen Körperfolien hinterfragt den Determinismus des biologischen Geschlechts hinsichtlich seiner theoretischen Dekonstruktion. Leaning Wall positioniert Identität im Widerstreit zwischen Geschlechtsstereotypen und dem Wunsch, diese Grenzen aufzulösen. Die symbolische Anlehnung der Arbeit an einen Sport aus der alpinen Bergsteigerwelt, der heute als moderne Selbstertüchtigung Körper und Geschicklichkeit gleichermassen anspricht, verweist auf unser Leben in der Hochleistungsgesellschaft, in der Body-Tuning genauso wichtig ist wie Ego-Tuning. Und dies für alle Geschlechter und Identitäten gleichermassen. Die Gleichsteuerung aller Individuen unter den kompetitiven Erfolgsdruck gilt heute als vermeintliche Einlösung von Gleichberechtigungsforderungen. So lässt Leaning Wall auch Reflexionen über Spielregeln gesellschaftlichen Erfolgs mittels Körperertüchtigung und Fitnesswahn zu.

Differenz als konstitutives Merkmal