Tellervo Kalleinen / Oliver Kochta-Kalleinen

Shedhalle / Ausstellungen / Formen der Beteiligung / KünstlerInnen


Kalleinen/Kochta-Kalleinen (FIN): "I love my job" 2008-10 (Videostill)

I Love My Job
8-Kanal-Videoinstallation, 2008-2010, je 6 min

Die Video-Installation „I love my Job“ reinszeniert acht Episoden einer konfliktuösen Arbeitssituation. Inkompetente Vorgesetzte, Umstrukturierungen und Effizienzdruck zerstören funktionierende Systeme; Mobbing und Exklusion lassen die Arbeit zu einem Elend werden. Deutlich wird, dass letztere eher Effekte des Arbeitssystems sind denn eigentlicher Böswilligkeit entspringen.

Egal, welche Arbeit oder soziale Schicht dargestellt wird, immer wieder kann man sich identifizieren und geniesst das Zusehen. Diese Lust rührt vor allem daher, dass die Situation sich oft auf eine heitere oder absurde Art auflöst und der Film scheinbar ‚niedrige’ Triebe wie Schadenfreude, Rache, List oder Triumph miteinschliesst. Wie im Märchen gelingt es den gebeutelten Subjekten, durch Flexibilität, List oder Glück den alptraumhaften Zuständen zu entkommen.

Entstanden sind diese Kurzfilme durch das Sammeln von Geschichten, die den täglichen ‚Workhorror’ thematisieren. Über eine öffentliche Ausschreibung suchten die KünstlerInnen Leute, die ihnen ihre Situation erzählten und auf Wunsch der beiden auch ihre Fantasien offenbarten, wie sie zu lösen sei. Mit Hilfe der Beteiligten schrieben sie ein Skript, das von den Beteiligten selbst oder von SchauspielerInnen gespielt wurde. Das Spiel wird ein Doppeltes: Therapie und Inszenierung, Leben und Kunst, Spiegel des Arbeitens im Neoliberalismus und dessen Durchkreuzung.
www.ykon.org/kochta-kalleinen/

 


Kalleinen/Kochta-Kalleinen (FIN): "People in White" 2011 (Videostill)

People in White
Film, 2011, 64 min

Aus der subjektiven Sicht von PatientInnen erzählt, erforscht "People in White" die komplexe Beziehung zwischen ÄrztIn, TherapeutIn und PatientIn und weist dabei auf deren asymmetrische Macht-Situation hin. Über Inserate in Tageszeitungen fanden sich auf Anhieb neun Personen, die bereit waren, von ihren teils traumatischen Erfahrungen zu berichten und mit der gesamten Gruppe zu teilen, und mehr als die Hälfte war auch bereit, diese vor der Kamera zu reinszenieren. Glaubt man zu Beginn einer Gruppentherapie-Sitzung beizuwohnen, legt der Film nach und nach sein inszeniertes Wesen offen. Immer zu dieser Ausgangssituation zurückkehrend, tauchen wir in unterschiedliche Situationen ein, welche von erfolgreichen Behandlungen und einem respektierenden Umgang bis zu institutioneller Gewalt, Machtmissbrauch und Ausnutzung der Abhängigkeit reichen. Dabei werden die einzelnen Erfahrungen und Situationen so vertauscht, dass jede Person sich in den unterschiedlichen Rollen wieder findet: Einmal ÄrztIn oder TherapeutIn, ein anderes Mal PatientIn.

Nicht nur im Film werden Rollen getauscht. Frontale Portrait-Einstellungen richten sich direkt an uns und zwingen uns, eine bestimmte Position dazu zu ergreifen. Die Grenzen der Zuweisung bleiben dabei stets fliessend und erzeugen ein verwirrendes Wechselspiel der Erfahrungen, Gefühle und Parteilichkeit. Durch dieses Verschwimmen der Rollen eröffnen sich dem/r BetrachterIn neue Perspektiven auf ein gesellschaftlich immer noch tabuisiertes und zugleich weit verbreitetes Thema.
 


Henrik Andersson: «Archipelago Science Fiction» (2012)

Archipelago Science Fiction
4-Kanal-Videoinstallation, 2012, je 6 min

Wie könnte Ihre Insel in 100 Jahren ausschauen? Im besten und im schlimmsten Fall? Welche Menschen bewohnen sie, wie bewegen sie sich, wie wohnen sie? So lauteten die Fragen, die Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen in Zusammenarbeit mit Henrik Andersson zu Beginn ihres Projekts den BewohnerInnen der drei Inseln Korpo, Utö und Houtskär im Archipel von Turku in Finnland stellten. Nach intensiven Interviews, drei Workshops, in denen die Teilnehmenden ihre Fantasien verdichtet und Skripts dazu geschrieben haben sowie den Dreharbeiten mit den BewohnerInnen entstanden vier Science-Fiction-Szenarios: Paradies der Reichen, Life-Style-Immigration, Neo-Kapitalismus und Outdoor-Museum. Wie in jedem Science-Fiction so wird auch hier bald einmal klar, dass es zwar um die Zukunft geht, noch mehr aber um die Fragen, welche Weichen heute für die Menschen von morgen gestellt werden und was eigentlich ein gutes Leben ausmacht.

Szenario 1, Paradies der Reichen: Der Archipel hat sich 2111 in ein global anerkanntes Gesundheitscenter mit Services zur Lebensverlängerung und Verjüngung verwandelt. Mittels Bio- und anderen Technologien kann die reiche, zunehmend älter werdende Weltbevölkerung ein schönes Leben führen und das tödliche Ende mittels einer Pille zu einem freudigen Ereignis gestalten.

Szenario 2, Life-Style-Immigration: 2111 ist der Archipel eine autonome Zone im Weltsystem. Jede Insel hat einen eigenen Lifestyle kultiviert: von den Ökoanarchisten auf Ytterholm bis zu den Wahren Schweden auf Korpo. Viele Menschen von der Erde möchten auf eine dieser Inseln, um dem stromlinienförmigen Leben zu entfliehen und stellen einen Einwanderungs-Antrag. Im Welcome-Center auf Utö wird aber auf die Berechnungen der Artificial Intelligence und deren Vorschläge mehr Wert gelegt als auf die geäusserten Wünsche.

Szenario 3, Neo-Kapitalismus: 2111 ist der Archipel eine postapokalyptische Welt. Eine Seuche im Jahr 2061 merzte einen Grossteil der Weltbevölkerung aus. Ein paar Hundert Überlebende leben in stammesähnlichen Zusammenhängen. Die Alten, die die Seuche erlebt haben, geben dem Kapitalismus schuld und schauen dazu, dass sich keine neuen kapitalistischen Tendenzen ausbreiten können.

Szenario 4, Outdoor-Museum: Grosse Teile des Archipels gehören der Chinesischen WEI-LUN-Entwicklungs Bank. Der ganze Archipel ist in einen Themenpark für TouristInnen der Mittelklasse aus China verwandelt. Die InselbewohnerInenn spielen Lebenswelten aus früheren Jahrhunderten und werden dafür bezahlt.
 


Kalleinen/Kochta-Kalleinen (FIN): "Dreamland" 2010 (Videostill)

Dreamland
Video- und Text-Installation, 2010, 58 min

Träume sind, so Sigmund Freud, der Königsweg zum Unbewussten. Sie zeigen uns, so wir sie zu lesen wissen, Wünsche, Ängste, Hoffnungen, und legen auf versteckte Weise unser Verdrängtes offen. Für die Videoinstallation „Dreamland“ haben Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen Träume von FinnInnen gesammelt, in denen die finnische Präsidentin Tarja Halonen eine Rolle spielt. Von den 85 eingesandten Träumen wurden 22 ausgewählt und z.T. mit den Träumenden selbst in Szene gesetzt. Was zusammen kam, ist ein buntes Gemisch an Träumen, in denen die Präsidentin an einem Gipfeltreffen ungeniert Gymnastik macht, Bier trinkt und Karaoke singt oder sich mit ihrem Ehemann im Heu wälzt. Mal tritt sie auf als liebevolle Mutter, mal als eiskalte Regentin oder komatöse Gehirnamputierte.

Die Masse der eingesandten Träume macht deutlich, dass die Präsidentin tatsächlich in den Köpfen der Menschen herumgeistert. „Dreamland“ enthüllt weniger die mutierenden Rollen, in denen sich staatliche Autorität zeigt, sondern vielmehr, wie sie individuell erfahren und erlebt wird. Obwohl die realistisch anmutende Ästhetik der Filme auf den ersten Blick nicht dem zu entsprechen scheint, was man sich unter Traumbildern vorstellt, setzen Kalleinen/Kochta-Kalleinen sehr wohl Methoden der Traumarbeit als filmische Mittel ein: So etwa spielen vier verschiedene Frauen die Präsidentin, die somit immer wieder anders aussieht und das Gefühl subjektiver Einheit und Stabilität sprengt. Dieses Fliessen der Subjekte entspricht der sogenannten „Verschiebung“, bei der im Traum verschiedene Personen eine einzige bedeuten können. Dass auch die einzelnen Träume nicht innerhalb fester Grenzen verlaufen, sondern zu einem kollektiven Fluss gehören, macht die Machart des Films ebenso deutlich: Alle Träume werden lückenlos aufeinander folgend gezeigt, oft weiss man nicht, wo der eine aufhört und der nächste beginnt. Ganz so wie die Träume, die vielfältig und verschieden, immer wieder Ähnliches umkreisen. 

 


Kalleinen/Kochta-Kalleinen (FIN): "Complaints Choirs" 2010 (Foto: Shedhalle)

Complaints Choirs - Beschwerdechöre
partizipatives Projekt / Videodokumentation, 2005, work in progress

Wer hätte gedacht, dass die von Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen initiierte Idee der Beschwerdechöre ein solcher Erfolg wird? Mittlerweile gibt es über 80 Chöre auf der ganzen Welt, und in Städten wie Tokyo wollten sogar 180 Leute mitsingen. Auch in Zürich war der von der Shedhalle 2010 produzierte Beschwerdechor sehr populär. Aus diesem Grund wird mit der neu verfassten Dokumentation rückwirkend nochmals ein Blick auf das Projekt geworfen und gefragt, welche Form von Beteiligung sich hier manifestiert.
Ausgehend vom finnischen Wort „Valituskuoro“, das übersetzt „Beschwerdechor heisst und bedeutet, dass viele Menschen sich gleichzeitig über irgendetwas beklagen, konzipierten Kalleinen/Kochta-Kalleinen ihre Idee der Chöre. Der erste Chor fand 2005 in Birmingham, dem sogenannten „arsehole of England“ statt. Das Prinzip besteht darin, über Flyer Menschen anzuwerben, die Klagen haben und bereit sind, diese zusammen mit einem/r lokalen MusikerIn einzustudieren und öffentlich aufzuführen. Nach dem grossen Erfolg in Birmingham wurden die beiden Künstler weltweit eingeladen, Beschwerdechöre zu initiieren, leiten diese mittlerweile aber nicht mehr. Das Konzept ist offen wie ein Open-Source-Projekt und wird auf Youtube fortlaufend dokumentiert. Die Chorgemeinschaften dienen dazu, scheinbar subjektive Probleme in eine temporäre Gemeinschaft zu tragen, mitzuteilen und somit mit den anderen zu teilen. Dabei wird eindrücklich erfahrbar, dass jedes Anliegen, so unbedeutend es zu sein scheint, seine Wichtigkeit hat. Kalleinen/Kochta-Kalleinen verstehen die Beschwerde auch als eine Station im Bewusstwerdungsprozess darüber, dass bestimmte Dinge ‚nicht stimmen’, dass man sie einmal laut äussern muss und dass man dann gegebenenfalls ins Handeln kommt, aber nicht muss. Vielleicht liegt gerade in diesem unhierarchischen und freien Umgang mit den Dingen das Versprechen dieses Projekts.
www.complaintschoir.org

 

Schadenfreude, Rache, List oder Triumph